Im Sinne des Wesentlichen

von Orsolya Kalász und Monika Rinck

1) Punkt Eins des Geheimnisses ist: Es gibt kein Geheimnis.

Es gibt nichts als Arbeit und die Zeit, die sie braucht. Die übersetzte Zeit, die Zeit der Übersetzung. Diese Zeit hört niemals auf, auch unser augenblicklicher Moment, eben dieser Vormittag, ist Teil der Zeit der Übersetzung.

DIE ZEIT DIE ES DAUERT – die übersetzte Zeit – die Nachgedanken, Nachtgedanken, die Nachlese.

Es dauert, es braucht Zeit, es verändert sich unter der Hand immer weiter, wie sich auch Gedichte mit der Zeit verändern. Jeder neue Blick sieht eine neue Möglichkeit. Warum haben wir uns für diese eine entschieden, erinnerst Du Dich? Ich erinnere mich nicht. Oder warte mal, es könnte sein. Dass. Dass. Das. Eine unendliche Aufgabe, und vielleicht möchte man diese Aufgabe endlich aufgeben – das geht aber nicht. (Die Zeit ist nicht ewig, die Zeit vergeht.)

Doch wohl gehört dieser zweite, dritte und vierte Blick dazu, dem oft nicht anderes zu entgegnen ist als: es ist vorbei, das Ding ist durch, Du kannst es nicht mehr ändern. Das steht jetzt so im Buch. Das ist gedruckt. Und dennoch, und das ist das, was der unübersetzte Text (das Original!) der Übersetzung voraus hat: Dem Originaltext gehören seine neuen Möglichkeiten, der abgedruckten Übersetzung gehören sie nicht, sie wird von neuen Varianten ausgehöhlt. Sei stark. Eine interessante Frage: Wem gehört die neue Deutung? Wird sie freigesetzt? Flottiert sie? Ist sie angebunden?

Das lehrt uns einiges über die Unhaltbarkeit der Aporie, über die Idee einer einzigen Lösung. Es gibt vielleicht nicht immer die beste Lösung, aber es gibt nie nur eine Lösung. Der Text stellt seine Fragen immer wieder, selbst wenn man ihn an einem sonnigen Augustsamstag im Strandbad liest. Er insistiert. Seine Nerven flattern, meine Nerven flattern. Langes geduldiges Nagen. Das ist eben so. Der geänderte, der gerenderte Blick. Schau mal, ein Reiher. Veränderung, die nicht Vernichtung ist.

Der Anthropologe Michael Taussig schreibt im letzten Kapitel seines Buches „I swear I saw this“, (Ich schwöre, ich hab das gesehen) Drawings in Fieldwork Notebooks, Namely My Own“, (Zeichungen in Feldforschung-Notizbüchern, und zwar meinen eigenen) (Chicago und London 2011) über ein Phänomen, das er AFTERTHOUGHTS nennt. Es geht in diesem Buch um die Praxis des Notierens und Zeichnens, während der Feldforschung und auch um das Notizbuch als Fetisch. Direkter Kontakt mit der Wirklichkeit, sie sehen, sie notieren, im Sinne einer gerechten Repräsentation, aufmerksam sein, aber unpersönlich bleiben.

Das ähnelt womöglich (von der Haltung her) dem, was von Übersetzer:innen erwartet wird. Auch: Die Versionierung, auf die wir vielleicht später noch zu sprechen kommen werden. Unter dem Titel AFTERTHOUGHTs, Nachgedanken, Nebengedanken, oder auch Nachlese schreibt er: „Nachgedanken nenne ich die Notizen, die ich erst nach ein paar Stunden oder Tagen dem Ersteintrag in meinem Notizheft hinzufüge.“ [Fußnote 1]Taussig: I swear I saw this. Drawings in Fieldwork Notebooks, Namely My Own. Chicago 2011. Es sei oft der wichtigste Aspekt, der gerade während des Schreibens nicht aufkam – und zwar wegen des Schreibens selbst. „Another manifestation of the mystic writing pad hitched to the Phantom.“ [Fußnote 2]Taussig: I swear I saw this. Drawings in Fieldwork Notebooks, Namely My Own. Chicago 2011. Dass es gerade das Aufschreiben selbst ist, das der Grund dafür ist, dass man manches nicht aufschreiben kann – oder eben erst später. Lebenslang haben die Nachgedanken kein Ende. Zum „Presentism“, zur Gegenwärtigkeit oder Gegenwartssucht kommt der Nachtrag, „as if there can be no present without its pastness“ [Fußnote 3]Taussig: I swear I saw this. Drawings in Fieldwork Notebooks, Namely My Own. Chicago 2011. – es kann keine Gegenwart geben, ohne dass sie vorbei ist.

Welche Übersetzungsprozesse, etwa von Story into Fact (oder umgekehrt), setzen in der Zwischenzeit ein? Listen to the Nervous System, rät Taussig, und mit Nervous System meint er: „reality in a state of emergency, confounding order with disorder and vice versa before you could wink an eye.“ [Fußnote 4]Taussig: I swear I saw this. Drawings in Fieldwork Notebooks, Namely My Own. Chicago 2011. Hört auf das Nervensystem und damit meint Taussig: Die Realität im Zustand der Notfalls, des Ernstfalls, worin Ordnung und Unordnung ineinander übergehen, bevor sich einmal blinzeln lässt. Taussig wird das Notizbuch zum Fetisch, der das Selbst des Notierenden überbietet und eigene intensive ästhetische Forderungen stellt, ein Fetisch, der immer wieder aufs Neue gelesen und geprüft werden muss. Es geht vor und zurück. Lesen heißt Nachlesen. Das gilt auch für das Gedicht. Das Gedicht als Nervöses System in dem Ordnung und Unordnung miteinander raufen. „Here again was the Nervous System, the nervously nervos Nervous System.“ [Fußnote 5]Taussig: I swear I saw this. Drawings in Fieldwork Notebooks, Namely My Own. Chicago 2011. Die Entscheidungen des Augenblicks ernstnehmen, die Enscheidungen des Augenblicks revidieren. Genau zuhören, noch nicht mitschreiben. Jetzt mitschreiben? Oder noch warten? Moment jetzt, jetzt ist alles für Momente, auf Kante, genau hingestellt. (MR)

2) Was man währenddessen zu sich nimmt: DAS MENÜ!

Wann soll ich kommen? – Gegen halb 8? – Soll ich etwas mitbringen: ja Salzstangen bitte. Alles andere ist da.

Wir haben während der Jahrzehnte unserer Zusammenarbeit sehr viele verschiedene Hilfsmittel erprobt, toxische Verstärker, konzentrationsfördernde Mittel, schlichte Gifte, hochdosierte Vitamine. Aber am besten waren, sowohl für die Gesundheit wie für die Aufrechterhaltung von Sturheit, Beharrlichkeit und Geduld: die Salzstange. Im Plural: die Salzstangen.

Und selbst um den Preis zur Salzstange zu erstarren, immer wieder warfen wir einen neuen Blick zurück, auf das Gedicht, selbst nachdem wir uns dem semantischen Tumult, der darin herrschte, schon entkommen glaubten. Und waren zur Salzstange erstarrt. Wir blickten dennoch zurück. Salzüberglänzt. Kristallin. Leuchtend weiß. Ein Lichtreflex. Die besten Salzstangen übrigens: das Schweizer Produkt: Roland Classic Sticks, mit Salz bestreut, außerdem Soletti Salzstangerl aus Österreich, und auf dem unangefochtenen ersten Platz Lorenz Snack World Saltletts Sticks Vollkorn. Sie sind so knusprig, dass sie quasi direkt vom festen in den salzförmigen Zustand übergehen. Das ist phänomenal.

Und die Überversorgung mit Salz ermöglicht die stete Zufuhr von Tee, wobei wechselhafte Hausordnungen vorsehen, dass der Verzehr von Weißwein erst ab 21:30 Uhr und ein Schluck Whisky (das war selten genug, es war wohl nicht mehr als eine Phase), erst nach Abschluss der Arbeit vorgesehen waren. Am Nachmittag: Kaffee und zuweilen der russische Honigkuchen der Kaktusbäckerei von gegenüber. Und immer weiter geht es auf treuen Pferden durch die Schlucht der aufgeklappten Rechner. Noch als der Morgen graute, standen sich die beiden Rechner gegenüber. Und weiter im Text, weiter, weiter in dieser verblockten Schlucht, ein Felssturz, der stürzende Sinn des Ganzen ging über uns nieder. Pass auf deinen Kopf auf. Oder ich passe auf deinen Kopf auf, und du indes auf meinen.

Nachdem ich das Rauchen einstellte, sollte auch Orsi nicht mehr beim Übersetzen rauchen, es hatte sich nämlich gezeigt, dass viele meiner Versuche, das Rauchen einzustellen in jenen Momenten scheiterten, wenn sich die andere, über einen verzwickten Vers oder unmöglichen Reim gebeugt, eine Zigarette anzündete, die auch ich sofort anzünden wollte, für mich, so dass wir eine Art Kohlekraftwerk der Übersetzung wurden. Ich glaube, dieses Phänomen bestand in beiden Richtungen. Es war einfach zu verlockend, diese doppelte Lokomotive zu sein. Das bedeutet jetzt: nach draußen gehen, aus dem dritten Stock, in den Hof.

Proviant auf der langen Strecke durch die verschiedenen Windungen des Nibelungen Wohnparks von János Térey: Obst. Ooch Obst. Sicherlich, ooch Obst. Man kann auch an Ingwer nagen oder bei fortschreitender Erschöpfung frische scharfe Peperoni in Erwägung ziehen. Spitzpaprika, Tomatenpaprika, milder Apfelpaprika, scharfer Apfelpaprika, Kirschpaprika, gebirgig starke Gebirgspaprika, pikanter Spitztütenpaprika, Kapia-Paprika, Narrenkappen-Paprika, Hundepenis-Paprika, Glockenchili, Roter Katzenpaprika.

Frische Luft hilft auch. Nur nicht müde werden. Oder nur so müde werden, dass eine erschöpft ist und die andere sagt: Lass uns das doch nochmal anschauen, oder die andere ist erschöpft und will nicht mehr, und die eine sagt: Noch zwei Strophen, dann Finito, okay! Wenn allerdings beide gleichzeitig erschöpft sein sollten, dann bricht das System an diesem Abend zusammen.

All dies gilt für die gemeinsame Präsenz im gleichen Zimmer. Dazu unter dem Punkt: dialogisches Übersetzen mehr. Das Ideal ist eigentlich der geteilte Tisch. Aber wir haben natürlich geskyped, gezoomt, gemailt, und auch sehr lange telefoniert. (MR)

3) Die Reimhölle

Nibelungen Wohnpark, der Text als reimpeitschender Zwangscharakter, roh und dann doch wieder durchformalisiert. Die Mischung aus gehobenem Ton und Unflat, wie er unter jenen aus dem deutschen Nibelungenlied re-importierten reichen jungen skrupellosen Männern üblich zu sein scheint, zumindest nach Terey – war eine große Herausforderung.

Alexandriner, sagte Orsi, als sie den Hörer auflegte. Aber das sind doch im Leben keine Alexandriner! Oder? Der Autor meint: doch! Unsere Einbildungskraft war zu diesem Zeitpunkt bereits derart gelockert, ja manisch unterscheidungslos, dass sie den semantischen Filter einfach überrannte und mit einem „jambischen Intim-Tattoo“ aus der Rumpelkammer des Unbewussten zurückkam, das zwar das Versmaß in jeder Hinsicht bediente, nicht aber den Sinn. „Du jambisches Intimtattoo, Sülze ist dein Karma.“ Unmögliche Verbindungen wollten dem Nichts entrissen werden, und zuweilen schien die Suche wie ein tiefer, schwerer Sturz, durch das Gebotene hindurch. Die Zeit wurde knapp. Im Halbschlaf sah ich das Licht am frühen Morgen durch das Fenster in mein Zimmer hineinfallen und erschrak: Es reimte sich nicht. Ich würde nicht aufwachen können, ohne einen Reim auf dieses Licht zu finden. Dann wurde ich wach und bemerkte gelöst, dass das Licht sich nicht reimen muss. Ich konnte also aufstehen und weitermachen. Noch schöner wäre es allerdings gewesen, dies alles, die ganze Arbeit, hätte sich ohne mein Zutun im Schlaf vollzogen. Das war übrigens der Moment, als in mir der Wunschtraum aufkam, unter Hypnose wie im Schlaf zu übersetzen.

Ein Reimwörterbuch kann helfen, das Feld zu vergrößern. Doch zunächst nehmen wir versuchsweise sehr viele syntaktische Umstellungen vor. Demolieren wir den Inhalt, oder demolieren wir den Klang? Mal so, mal so. Was nennen wir „das Wesentliche“? (MR)

4) DAS WESENTLICHE

„Nur das Wesentliche verlässt nicht das sinkende Schiff.“ Ist dieser Satz eine Redewendung? Nein, ist er nicht. Keine geläufige, trotz seiner Geläufigkeit. Viele meiner ungarischen Freunde zitieren ihn in diesen Tagen, natürlich auf ungarisch. „Csak a lényeg nem hagyja el a süllyedő hajót.

Es ist ein Gedicht. Ein Gedicht des Lyrikers István Kemény, den Monika und ich seit über zehn Jahren gemeinsam übersetzen. Sein vierter deutschsprachiger Band „Ich übergebe das Zeitalter“ erschien 2020. Dort ist dieses Gedicht mit dem Titel SLOGAN zu lesen.

Kann gut sein, dass irgendwann in Vergessenheit geraten wird, dass es sich um ein Gedicht von István Kemény handelt. Das Gedicht wird zur Redensart, die nicht mehr auf ihren Ursprung bei Kemény verweist, sondern geläufig geworden ist. „Nur das Wesentliche verlässt nicht das sinkende Schiff“ – der paradoxe Slogan hat wirklich das gewisse Etwas, das Goethe den „Schein der Bekanntheit“ nannte, als er den Deutschen seine erfolgreich erfundenen Volkslieder in den Mund legte.

Das ungarische Substantiv lényeg und das deutsche Substantiv das Wesentliche haben eines gemeinsam. Beide Wörter sind Ableitungen eines Wortes, das auf dem ersten Blick vom Sinn und Gebrauch her identisch ist. Ohne Kontext, würde ich das deutsche Wort „Wesen“ immer mit dem Wort „lény“ übersetzen und umgekehrt auch.

Schaut man sich die Etymologie der beiden Wörter an, so sieht man, dass das deutsche Wort Wesen bis zum 8 Jahrhundert zurückverfolgt werden kann. Das ahd Wort „wesan“ hatte die Bedeutung: ahd. wesan ‘das Verweilen an einem Ort, Aufenthalt, Existenz, Dasein’ (8. Jh.), mhd. mnd. wesen ‘das Sein, Verweilen, Wohnen, Aufenthalt(sort), Wohnung, Hauswesen, Existenz, Wesenheit, Leben, Art, Eigenschaft, Zustand, Ding, Sache’, ), verwandt mit aind. vásati ‘wohnt, lebt, verweilt’, griech.aésai (ἀέσαι, Aorist) ‘(die Nacht) zubringen’, lat. Vesta ‘Göttin des häuslichen Herdes’. Das Adj. wesentlich Adj. ‘hauptsächlich, charakteristisch, wichtig, bestimmend’, ahd. (mit aus dem Partizip stammendem Dental) wesantlīh ‘seiend, substantiell’ (9.Jh.), wesantlīhho Adv. (um 1000), mhd. wesentlich, meist jedoch wes(en)lich ‘wesenhaft, wirklich, dauerhaft, häuslich’, frühnhd. auch ‘wohnhaft, seßhaft, in gutem Zustand befindlich’.

Im achten Jahrhundert waren die Magyaren noch Nomade Stämme, das Gegenteil von sesshaft.

Das Wort „lény“ ist erst im Zuge der ungarischen Spracherneuerung im 18 Jahrhundert entstanden.

Im 18. Jahrhundert sah sich die ungarische Aufklärung zur Erkenntnis gezwungen, dass die Muttersprache ungeeignet für das Vortragen wissenschaftlicher Dissertationen ohne Latinismen ist und der Wortschatz den literarischen Ansprüchen nicht gewachsen ist. Folglich initiierte eine Gruppe von Schriftstellern die Erweiterung, Erneuerung des ungarischen Wortschatzes. Sie kürzten Wörter ab (győzedelem > győzelem [Sieg]), verbreiteten viele dialektische Wörter im gesamten Sprachgebiet (z.B. cselleng umherstreifen, rumlungern]), ließen ausgestorbene Wörter wiederauferstehen (z.B. dísz [Zierde, Aufputz]), und bildeten natürlich viele Wörter mithilfe von Suffixen

Ungarisch ist seit 1836 offizielle Sprache in Ungarn, sie übernahm die Rolle des Lateinischen stufenweise, und ist seit 1844 die ausschließliche Sprache. In bestimmten Fällen ist aber auch die Verwendung der Minderheitensprachen erlaubt.

Das Wort „lényeg“ ist eine Ableitung. Wir wissen sogar, dass die ungarische Sprache diese Wortschöpfung dem Übersetzer und Schriftsteller Mihály Helmeczy verdankt. Es ersetzte im Ungarischen das lateinische Wort „essentia“. Seine Bedeutung: die Gesamtheit charakteristischer Eigenschaften.

Aber sind die Herkunft und Geschichte der Wörter das Wesentliche, dass das sinkende Schiff nicht verlässt? (OK)

5) DIE UNGARISCHE LOGIK, das widersinnige Bild

Wie oft habe ich gedacht: „Wenn ich ein Computer wäre, würde ich jetzt abstürzen!“ Warum begrüßt er denn das, was er bedauert, warum gibt er vor, unglücklich zu sein, um die vorübergehende Abwesenheit des Unglücks wiederum ausführlich zu beklagen? Warum ist etwas wie klebriger Mull, der kleben bleibt und dreht sich dennoch in Mündern? Warum pocht etwas, das fließt? Warum ist das Schlucken ein Geborenwerden? Und warum muss man ihn denn wecken, wenn er gar nicht schläft? Ja, gerade weil er nicht schläft. Aber was werden die Leute dazu sagen?

Ein offenes Bild – ein Blick in die Werkstatt, in der die Sprachbilder gebogen werden, eine kleine Exkursion, die wir István Kemény verdanken: Es heißt: SICH MIT DEM MATERIAL HERUMSCHLAGEN [Fußnote 6]István Kemény: Sich mit dem Material herumschlagen, aus: Ich übergeben das Jahrhundert. Berlin: Verlag Reinecke und Voß 2019.

>> Der Mond, zum Beispiel, ist mir ein Juwel, das,
wenn es dämmert, die Tanne schmückt, denk‘ ich.
Aber nur in einer nebellosen Nacht zu sehen ist.
Der Mond, zum Beispiel, ist ein Juwel.

Die Tanne ist natürlich auch ein Juwel.
Nur ein bisschen weniger wert. Und auch sie
ist etwas, das der Mensch tragen kann –
aber sie bleibt trotzdem eine Tanne.

Letztlich ist der Mensch auch ein Juwel.
Mit seinen ganz realen Liebesthemen.
Egal, ob als Ideal oder als Portier.
Natürlich. Auch der Mensch ist ein Juwel. Aber…

dies schrieb ich, als mich die Verzweiflung packte
und ich Schmuck unter meinen Nägeln hervorkratzte,
und als ob draußen eine Katze losschrie –
war drinnen meine erste Predigt in Arbeit. <<

(Aus: István Kemény: Ich übergebe das Jahrhundert)

>> Der Mond, zum Beispiel, ist mir ein Juwel. Aha. Das Gedicht beginnt in der ersten Zeile mit einer klassischen Metapher: Der Mond als Juwel, metaphorisch gleichgesetzt, er schmückt die Tanne, ja, er wird in ihrem dunklen Wipfel leuchten, ich hänge ihn imaginär in meinen inneren Himmel, ein helles rundes Amulett, das gut zu sehen ist, weil kein Nebel herrscht. Die Stimme des Dichters hat sich selbst vermerkt: „denk ich“, konzediert er – wir sind also im Kopf des Dichters. Er denkt den Mond als Juwel. Das leuchtet ein.

Doch in der nächsten Strophe passiert etwas Ungewöhnliches: Wir lernen, dass auch die Tanne ein Juwel ist, nicht ganz so hochwertig wie der Mond, aber immerhin.

Die Tanne ist natürlich auch ein Juwel.
Nur ein bisschen weniger wert. Und auch sie
ist etwas, das der Mensch tragen kann –
aber sie bleibt trotzdem eine Tanne.

Kann der Mensch die Tanne tragen wie ein Juwel? Er kann Ende Dezember eine kleine Tanne nachhause tragen, ja, das geht. Aber die Tanne ist hier Juwel und bleibt Tanne. Eine eigenartige Zusammenziehung, was macht das mit dem idyllischen Dämmerungsbild aus der ersten Strophe? Aber es geht weiter. Das Juwel dehnt sich auf den Menschen aus. Der als Ideal oder Portier begegnet. Wie habe ich mir die Juwelität jeweils vorzustellen? Implodiert mir nicht das Bild?

Letztlich ist der Mensch auch ein Juwel.
Mit seinen ganz realen Liebesthemen.
Egal, ob als Ideal oder als Portier.
Natürlich. Auch der Mensch ist ein Juwel. Aber…

Wie geht es weiter? Wir werden als Leserinnen nun ganz direkt an den Schreibtisch des Dichters gebeten, und ich denke, der Dichter ist hier eine Kunstfigur, die gewisse Züge des Autors teilt.

dies schrieb ich, als mich die Verzweiflung packte
und ich Schmuck unter meinen Nägeln hervorkratzte,
und als ob draußen eine Katze losschrie –
war drinnen meine erste Predigt in Arbeit.

Mit einem Mal ist auch der Dreck (ich nehme mal an, dass es sich um solchen handelt) unter den Nägeln des Dichters ein Schmuck. Schmuck, kein Juwel, aber aus der gleichen Klasse, ließe sich sagen. Und als ob – es folgt ein Vergleich, keine Ersetzung wie zuvor – draußen ein Katzenschrei beginnt, im Konjunktiv – ist es die Predigt, die in Arbeit ist. Hat diese Predigt nun etwas zu tun mit dem Juwel? Fragen über Fragen, aber es sind klare, sichtbare Fragen, denn das Gedicht hat sich den Raum genommen, sie für uns zu entfalten. In vielen Gedichten, mit denen wir uns beschäftigten, gehen diese Prozesse auf dem engsten Raum vor sich, unter hohem Druck. Dann läse man vielleicht etwas wie: „Der Mond, das Juwel ist die Tanne des Menschenjuwels, indes eine Katze im Außenraum mit einem Schrei eine Predigt beginnt, die sie nicht hält, sondern er, der Schmuck unter den Nägeln, er, der kratzt.“ Das ist natürlich imaginär, und ich möchte mich bei István Kemény gerne für diese mutwillige Verdichtung entschuldigen, aber ich hoffe, dass ich Ihnen damit einen Eindruck vom Aufbau und Struktur gewisser metaphorischer Tendenzen geben konnte – selbst verständlich nur so, wie sie sich mir zeigten, ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Es sind nur die Stellen, an denen Sie Abdrücke meiner Zähne sehen können, vom nagen, vom nagen. <<

6) DAS WESENTLICHE, ERNEUT

„Nur das Wesentliche verlässt nicht das sinkende Schiff.“ István Keménys Gedicht, das „Slogan“ heißt, ist ein kurzer, wirkungsvoll formulierter, einprägsamer Satz, wie man es von einem Slogan erwarten darf.

Das Nur, ung. csak. impliziert, dass das personifizierte Wesentliche sich für den Untergang entschieden hat. Wird hier Werbung für eine negative Utopie gemacht? Oder haben wir es mit einem Sinnbild der ungarischen Geschichte zu tun, die ja, das ist kein Geheimnis, den Topos des Untergangs immer wieder zum politischen Mittel gemacht hat? Oder geht es hier um die Frage nach Größe?

Der mit dem Friedenspreis ausgezeichnete polnische Übersetzer Karl Dedecius, schreibt in seinem Buch „Vom Übersetzen“: „Die Inspiration des Übersetzers ist das Kunsterlebnis.“ [Fußnote 7]Karl Dedecius: Vom Übersetzen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. 1986. An einer anderen Stelle: „Man kann Dichtung würdig übersetzen, wenn man zu unterscheiden weiß zwischen dem Wesentlichen und dem Beiwerk dieser Dichtung. Das erste müssen wir wiedergeben, das zweite dient uns als unerlässlicher Spielraum.“ [Fußnote 8]Karl Dedecius: Vom Übersetzen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. 1986.

Der ersten Aussage kann ich nur beifügen, dass eine geteilte Freude über eine schöne Zeile viel eher in die lebendige, abrufbare, inspirierende Erinnerung übergeht. Es ist auch die Art und Weise, wie wir gemeinsam Nachdenken über Gedichte. Die Unterscheidung zwischen Wesentlichem und Beiwerk ist für mich weniger klar, aber erlebbar im Austausch mit Monika. Weil sie andere Grenzen und zieht und abbaut wie ich. Auch in Ungarn ist es mehr oder weniger so, dass Lyrik vor allem von Lyrikerinnen und Lyrikern übersetzt wird. Von einer guten Übersetzung kann erst dann die Rede sein, wenn die Form des Originals nachgebildet wurde. Die formelle Treue ist bis heute eines der höchsten Gebote.
Die Erklärung dafür lassen Sie mich Ágnes Nemes Nagy, eine der großen Dichterinnen des 20 Jahrhundert, geben und zwar aus der Perspektive der Unübersetzbarkeit ungarischer Lyrik. Von den Anfängen bis heute. Ich zitiere etwas ausführlicher: „Jede Sprache hat ihre Eigenart. Aber die ungarische Sprache ist noch eigener. Wäre ich Linguistin, würde ich mich von morgens bis abends darüber freuen, eine finnougrische Sprache in mir zu haben. Als Dichterin kann ich das nicht behaupten. Die ungarische Sprache ist eine Insel. Sie ist der weltliterarische Tod.“ [Fußnote 9]Ágnes Nemes Nagy: Vorwort zu einem Lyrikband In: Szó és szótlanság. Összegyűjtött esszék I. Bp. [1989.] Magvető (Wort und Wortlosigkeit Gesammelte Essays I.)
(…) Ich will auf den agglutinierenden Charakter des Ungarischen hindeuten. Dem ist auch zuzuschreiben, dass die ungarische Lyrik des 20. Jahrhunderts, die Flexibilität ihrer Sprache, d.h. ihren Reichtum an Assonanz ausnutzend, in viel größerem Maße Reime anbietet als dies in der Weltliteratur üblich ist. Und was die Rhythmik angeht: die scharfe Trennbarkeit der Silben des Ungarischen ermöglicht es, dass in der ungarischen Dichtung drei rhythmische Systeme koexistieren: ein betontes, ein gereimt-metrisches und klassisch-metrisches. Und dies macht sie kaum zu übersetzen. Jedes Gedicht ist unübersetzbar. Aber das ungarische Gedicht ist noch unübersetzbarer.“ [Fußnote 10]Ágnes Nemes Nagy: Gleiche Stelle

Ist das sinkende Schiff vielleicht seine eigene Insel, die untergeht? So wie eine Sprache ja aussterben kann? Die Inselsituation betrachtet Ágnes Nemes Nagy allerdings als eine für die Poesie geradezu beglückende Lage. Sie schreibt weiter: „Aber die ungarische Sprache ist zugleich in besonderer Weise geeignet für die Poesie. Sie ist genau deshalb so geeignet für die Poesie, weil sie so abgeschottet ist, weil sie weltliterarisch so lebensgefährlich ist, weil eine gewisse Aussichtslosigkeit zu ihrem Wesen gehört, weil man durch sie eine Aussicht auf die letzten Fragen der Menschheit hat.“ [Fußnote 11]Ágnes Nemes Nagy: Gleiche Stelle

Eben das, was Ágnes Nemes Nagy hier als Eigenarten des Ungarischen beschreibt, könnte das Wesentliche sein, das in István Keménys Gedicht untergehen muss: Die Unübersetzbarkeit. Sie ist das, was untergehen muss beim Versuch des Übersetzens. Ein Gegenstück zum paradoxen Slogan wäre ein berühmter Ausspruch von Endre Ady, ein Wort, das bis heute im Hinblick auf die politische Nähe Ungarns zum Westen verwendet wird: „ Fährenland.“ [Fußnote 12]Endre Ady: (Ismeretlen Korvin-kódex margójára: Figyelő, 1905) Randnotitzen zu einem unbekannten Corvina-Kodex. In der Wochenzeitschrift für Literatur und bildende Kunst Figyelő 1905 )

Wer übersetzt, ist dieser Metapher nach eine Fährfrau, ein Fährmann gegen Westen. Aber es gibt auch Übersetzungen, die wissen, dass diese Fähre so oder so dem Untergang geweiht ist, und zwar in beide Richtungen. Weil eben nur das Wesentliche nicht das sinkende Schiff verlässt. Das Unübersetzbare ruht am Grund des Sees und gluckst und gluckert dort wie das Gehirn in Ágnes Nemes Nagys Gedicht „Das Monster.“

>> So höre ich es öfter in der Nacht
gehörig glucksen, wie ein Gurgelklang,
ein Hicksen, ein Wälzen, Verröcheln,
am eigenen, steigenden Schlamm. << [Fußnote 13]Ágnes Nemes Nagy: Das Monster (“A szörny “ In: Szárazvillám Versek és műfordítások (Trockenblitz. Gedichte und Nachdichtungen) Bp. 1957. Magvető Verlag) (Übersetzt von O. Kalász u. C. Filips) (OK)

7) DIE DIALOGISCHE ÜBERSETZUNG

Chili-Schote! Chili-Schote! Wir sind Teil einer uralten Tradition. Schmerzfuggel, Schnurzfeggel, Schneuznuckel, Schluckfeudel, Heuschnuckel, Scherzhuggel, Versschmuggel!

Der Apokalyptiker, der bekannt geben möchte, was ihm offenbart wurde, ist auf Übersetzer angewiesen, und zwar in unterschiedlicher Hinsicht, denn auch die Deutung könnte hier als eine Form der Übersetzung verstanden werden. „Eine eröffnende Schau bringt in der Regel noch nicht die volle Einsicht, sondern lässt symbolisch durch Bewegungen von seltsamen Tieren, außerordentlichen Bäumen, bedrohlich einherflutenden Wassern u.ä. den künftigen Lauf der Dinge erahnen. Eine nachfolgende zweite Szene bringt dann die Deutung, die meist ein Dolmetschengel, angelus interpres, vorträgt. Bisweilen bleibt dennoch ein unverständlicher Rest (z.B. Dan 7.27), der erst in der Endzeit den Betroffenen einsichtig werden wird.“ Mit der Klarsichtigkeit der Verschlimmerung, die mit einem Mal alles sieht, in hellem Licht, rau und hart, wie es ist. [Fußnote 14]Aus der von Klaus Koch verfassten Einleitung des Bandes „Apokalyptik“ der wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt, erschienen 1982.

Orsolya ist so ein Dolmetsch-Engel, ANGELUS INTERPRES, ohne den ich die Texte, die uns vorliegen, nicht einmal lesen kann. Sie öffnet sie Fenster, die macht das Licht. Doch was bedeutet es, wenn die Besprechung der Bedeutung und die bestmögliche Form, die sie im Deutschen finden kann, ausschließlich auf Deutsch besprochen wird?

Wozu gehört die Deutung? Deutet schon die Übersetzung? Gehört die Deutung dem Gedicht? Wir nehmen die Deutung wieder zurück, denn wir wollen nicht mit einem Zaun vor dem Auge der Leserschaft wedeln. Auch die Leserinnen und Leser sollen den Weg zum Verständnis gehen dürfen, den wir gegangen sind. Also nochmals: Es ist 18:50 Uhr. Wir sitzen einander gegenüber. Die wichtigsten Produktionsmittel sind vorhanden: Originaltext, Notizheft, Dictionary, Sag es treffender, das Gegenwort-Wörterbuch, der Wahrig, der Duden Band 1, Band 9, der große Dornseiff, (zwei verschiedene Auflagen davon), der Synonym-Duden, sowie und Salzstangen, Tee, und ein Klotz Trauben, später Weißwein. Manchmal hat Orsolya mir schon zuvor eine erste Fassung geschickt, oft übersetzt sie alla prima und ich versuche ihr so weit wie möglich entgegen zu kommen, mit gespannter Aufmerksamkeit, auf den Ton, den wir anstreben, den Ton, den wir haben, den Ton, der sich aufdrängt und derjenige, der sich entzieht.

>> Der neue Ton – eine Wolke über dem Tisch / Der Regen, der daraus fällt /

Vertrauen und Wachsamkeit

TOTAL IMMERSION: Mario Z. Nemes‘ Gedicht BADEN:

Dann ist es dunkel,
wie in einem Hasen. << [Fußnote 15]Mario Z. Nemes: Puschkins Brüste : Gedichte ungarisch und deutsch / MIT WIDMUNG von Mario Nemes Márió Z. Nemes , aus dem Ungarischen von Orsolya Kalász, Monika Rinck und Matthias Kniep, Stuttgart: Edition Solitude, Reihe Literatur 2016.

Fort das Licht, weg die Orientierung, eingetaucht. das kalte Wasser packt mich im Nacken, ich strampele, ich schwebe. Ich bin viel leichter als sonst. Nichts sehe ich. Langsam öffnet mir die Stimme von Orsi ein Fenster nach dem anderen. Wir erbauen eben diese Dunkelheit. Wir schaffen eine Kopie davon, eine unabhängige Kopie. Ein dunkelklares Sprachgefühl. Offenbleiben, nicht verweigern.

„Wir beide kennen / das Geheimnis, wir kennen / den Punkt, von wo aus / alles verschiebbar ist, von wo aus / man alles wenden und drehen kann, und / nicht einmal das interessiert uns, mein trauriger / Schatz, mein heiler Verstand.“ [Fußnote 16]István Kemény: Ein Hofnarr, allein, in Nützliche Ruinen. Übertragen von Orsolya Kalász, Monika Rinck, Gerhard Falkner, Steffen Popp. Frankfurt am Main: Gutleut Verlag 2007. So spricht eine poetische Figur mit sich selbst, oder besser: mit ihrem Verstand. Aber ist sie denn nicht ihr Verstand? Ja und nein. Wir, die Übersetzerinnen, aber hören zuweilen auch die verschwiegenen, inneren Stimmen der Autori:nnen (oder bilden sie uns ein), wenn wir die formalen Möglichkeiten einer Aussage abklopfen, intuitiv entschaffen und danach aufs Neue zusammensetzen. Die dialogische Übersetzung ist auch eine Wolke der Intuition, die über dem Tisch schwebt, an dem Sitzen, während eine kristalline Schicht aus Salz um unsere Körper wächst. (MR)

8) Wozu sagen wir ja, wozu sagen wir nein: UNÜBERSETZBARKEIT

Unübersetzbarkeit ist ein Mythos, einerseits. Meist findet sie nicht auf der lexikalischen Ebene statt. Es kommt vor, dass mir in einer Sprache ein Begriff für eine bestimmte Kulturtechnik ermangelt, die es in dem Sprachraum, in den hinein ich übersetze, gar nicht gibt. Im Alltag kann ich diese Begriffe umschreiben, ich kann sie erläutern. Ich bin weniger prägnant, verbrauche mehr Worte als in der Ursprungssprache nötig gewesen wären, aber da der semantische Gehalt einander entsprechender Worte in verschiedenen Sprachen sowieso nie ganz identisch ist, ist dies eigentlich keine große Sache. Ich kann sogar Gefallen finden am Reichtum der fortgesetzten Umschreibung. Wenn ich aber ein Gedicht in gebundener Form vor mir habe, ist dies schwieriger. Dann habe ich es mit metrischer, klanglicher oder zusammenfassend gesagt: poetischer Unübersetzbarkeit zu tun.

Auf welchen Ebenen verwirklichen sich verschiedene Formen der Unübersetzbarkeit? Auf Platz eins findet sich nicht die poetische Unübersetzbarkeit, sondern? Die finanzielle.

  1. Hierzu zählen alle Gedichte und Texte, die weltweit in kleinen oder großen Sprachen geschrieben werden und für die sich weder Übersetzer*innen noch Verlage finden. Sie sind unübersetzbar, weil sich niemand leisten kann, ihre Übersetzung zu finanzieren, und weil außerhalb ihres Sprachraums kaum jemand von ihnen weiß.
  2. Auf poetischer Ebene. Wenn ich eine Sestina aus dem Isländischen übersetze, worin Seele und Ente homonym sind, also das gleiche Wort bewohnen, und „önd“ mal als Ente, mal als Seele gebraucht wird, habe ich ein Problem.
  3. Auf grammatischer Ebene. Wenn ich einen Text aus einer Sprache ohne grammatikalisches Geschlecht, zum Beispiel aus dem Ungarischen, ins Deutsche übersetze, und der Autorin oder dem Autor daran liegt, das Geschlecht der Personalpronomen in der Schwebe zu halten, kann ich vielleicht auf den Infinitiv oder die 2. Person ausweichen – aber das ist schon ein ziemlich drastischer Eingriff.
  4. Auf der Ebene der außersprachlichen Phänomene. Es gibt einige Vogelarten, die nichts miteinander zu tun haben und irrtümlicherweise den gleichen Namen tragen, denn die ersten Siedler, die England in Richtung der Neuen Welt verließen, waren nicht immer Ornithologen. Auch ist die schlanke russische Birke mit der eher behäbigen hiesigen Birke nur schwer in Übereinstimmung zu bringen. Worte ohne Äquivalenz. Keine Entsprechung. Die diktionäre Illusion.
  5. Auf der Ebene des Duktus‘: Wenn ein bestimmter Duktus aus historischen Gründen in bestimmten Sprachen nicht mehr zu gebrauchen ist, wird es schwerfallen das poetische Pathos eines politischen Appells ins Deutsche zu übersetzen, ohne dass sich sogleich das Echo nationalsozialistischer Sprachgebungen erhebt.
  6. Auf der Ebene der Dialekte, Soziolekte und Regionalsprachen. In welchen deutschen Dialekt soll ich das Friaulische bringen? Welcher deutsche Soziolekt ist am meisten Cockney? Hier ist es noch am ehesten möglich, eine Kunstsprache zu finden, die mir aushilft, wenn nicht gar taugt.

Zurück zur Lexik: Schadenfroh? What about gleeful or malicious? Seelenheil? Let me think. Da, wo es keine direkte Entsprechung gibt, was genaugenommen viel häufiger der Fall ist, als man gemeinhin annimmt, empfiehlt sich die Ansiedlung eines neuen Fremdwortes für eine neue Praxis, wie zum Beispiel in der schönen Essaysammlung „Untranslatable Terms of Cultural Practices – A Shared Vocabulary“* beispielhaft vorgeführt. Und wenn ich dann erst einmal in der Lage bin, eine verwickelte linguistische Lage ins Deutsche zu rekombinowatschen, dann finden sich sicherlich auch Lösungen für die Punkte zwei bis sieben, das ist gewiss. (MR)

9) Das Wesentliche, wieder

Ich komme zur Frage des Nichts. Zur Frage der Negation. Also: Zur Frage des Dialogischen, das ohne Verneinung nicht denkbar ist. „Nur das Wesentliche verlässt nicht das sinkende Schiff.“

Hört man den Slogan flüchtig, so überhört man dieses Nicht. Der Slogan ist geradezu gemacht dafür, die Negation in ihm verschwinden zu lassen. Denn höre ich den Slogan schnell, so höre ich doch:

„Nur das Wesentliche verlässt das sinkende Schiff.“

Nein, eben nicht! Verlässt nicht.

Dieses „Nicht“ dreht den Satz in seiner Mitte so gegen die Fahrtrichtung, dass man gezwungen ist, zu überhören. So will es die Logik des nur scheinbar rasch eingängigen Slogans. Ich merke beim Übersetzen: Ich habe etwas überhört und muss noch einmal ansetzen.

Was möchte ich denn überhören? Überhören möchte ich wohl, dass das Schiff untergeht. Dass alles untergeht. Dass nichts zu retten ist. Indem ich überhöre, widerspreche ich also dem Gedicht. Und zu diesem Widerspruch fordert es mich auf. Ich soll das Wesentliche überhören. Überhören soll ich das „nicht“.

Das (Nicht) /azt hogy nem. Csak a lényeg nem hagyja el a süllyedő hajót

Das dialogische Übersetzen stellt keinen Konsens her. Bei jedem Gedicht ist es ein neu beginnendes Gespräch. Es beginnt immer an genau jenen Stellen, die eigentlich unlösbar erscheinen. Wenn es eine Voraussetzung für dieses gemeinsame Übersetzen gibt, so lautet sie: einer von uns muss dieses Nicht überhören. Einer von uns muss annehmen, dass eine Übersetzung nicht möglich ist. Nein, möglich ist.

Ich überhöre das Nicht, wenn ich sage: Ich spreche nicht Ungarisch, spreche nicht Deutsch. Ich überhöre das Original, um eine Zwischensprache zu sprechen. Die Zwischensprache der Poesie. Franz Fühmann beschreibt sie – beim Übersetzen aus dem Ungarischen – wie folgt: „Die Übersetzung eines Gedichts ist ja nicht eine Sache zweier, sie ist eine Sache dreier Sprachen: der gebenden, der empfangenden und der Universalsprache der Poesie. Ein ungarisches Gedicht ist ja nicht einfach ‚Ungarisch‘, es ist Ungarisch, und es ist ein Gedicht, und wenn das Ungarische ins Deutsche übersetzt ist, steht die zweite Übersetzung, die innerhalb des Deutschen, noch aus. hier ist, trotz der Besonderheit, dass diese drei Sprachen in der linguistischen Form nur zweier erscheinen.“ [Fußnote 17]Franz Fühmann: Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens. Rostock: Hinstorff Verlag 1999.

Was ich überhören muss, ist die gebunden Form. Wo ich doch nichts so überdeutlich höre wie eben diese. Wie könnte ich denn die Form überhören? Die Assonanzen, die agglutinierten Affixe. Sie sind nicht zu überhören. Und doch überhöre ich auch die Form. Ich versinke nicht in Schuldgefühle ihretwegen. Ich überhöre das Unübersetzbare am Grund, das gluckst. Ich höre, dass alles übergeht. Ich übergehe die Details und gehe davon aus, dass alles angekommen sein wird. Ich höre Monika zu, ich lasse mich vom Futur II die Zukunft sagen, entlasse mich aus der Pflicht des Scheiterns. Ich bin immer besser darin, meine Ängste zu überhören: Den weltliterarischen Tod des Ungarischen, die möglichen Missverständnisse, die falsche Ankunft an der falschen Stelle. Ich überhöre mein Gefühl, dass es nur um vergebliche Rettungsaktion oder heroischen Tod gehen kann.

Ich vertraue also dem Wesentlichen. Ich vertraue unserem beiderseitigen Vertrauen.
Monika zuwinken, sie winkt zurück. (OK)

10) DIE LESEPROBE

Was wir gemeinsam gemacht haben, was wir machen, ist ja eine Praxis, keine Theorie. Die Theorie war nichts als die entstandene Übersetzung. Keine konnte alleine, ja nicht einmal zu zweit (oder aber inzwischen doch?) darüber Auskunft geben. Auf der Basis von Vertrauen, Aufmerksamkeit, Wachsamkeit und Sympathie, unter Zugabe von sehr viel Zeit, waren diese Gebilde entstanden.

Keine Abwehr aufbauen. Erstmal annehmen, alles sei möglich, könnte möglich und auf eine noch unbekannte Weise sinnvoll sein. LESEN HÖREN LAUSCHEN KORRIGIEREN: Am Ende steht die LAUTE LESEPROBE. (MR)

11) Das letzte Geheimnis

Und das ist das allerletzte Geheimnis: Es waren nur zehn, nicht elf Punkte.
(MR/OK)