Eine Annäherung an das Kunstwerk der fremden Sprache

von Hans Raimund

I

Gleich vorweg : ich bin kein professioneller Übersetzer, ich bin ein Autor von Texten, die, nach Machart und Tradition, sich zumeist der Kategorie „schöne“ Literatur zuordnen lassen. Ich bin ein Schriftsteller, der auch Prosa – Erzählungen und Essays – vor allem aber Lyrik geschrieben hat und deswegen, der Einfachheit halber, auch heutzutage noch oft als „Dichter“ bezeichnet wird. Aber auf dem Gebiet des Übersetzens bin ich nicht mehr – aber auch nicht weniger! – als ein Dilettant. Ich habe seit jeher nur übersetzt, was mir als Leser und Literat gefällt: fast ausschließlich Lyrik angelsächsischer, französischer und italienischer Dichter.

Ein einschlägiges Studium, in dem man das „Handwerk“ des Übersetzens lernen kann, habe ich nicht absolviert. Ich studierte englische und deutsche Literaturwissenschaft – auch nur deswegen, weil ich anfangs irrtümlicherweise annahm, daß diese akademischen Disziplinen etwas mit dem Entstehen von Literatur zu tun hätten…

Ich bin also ein „Dichter“, der a u c h übersetzt.

Vor allem aber bin ich ein Leser. Jeder, der schreibt, ist einer, der zuerst gelesen hat. Übersetzen ist für mich, von Anfang an, stets ein verlängertes, erweitertes, vertieftes Lesen gewesen. Das hat einiges, ich gebe es zu, mit meinen lückenhaften Kenntnissen in den jeweiligen Fremdsprachen zu tun, aus denen ich übersetzt habe: ich will den Text, den ich lese, zunächst genau verstehen und ihn erst dann, vorausgesetzt, er erscheint mir interessant, in der von mir als Literaten erarbeiteten Version auch anderen vermitteln. Grundsätzlich ist jedes Übersetzen zuerst einmal ein intensives und präzises Lesen, darüber hinaus dann ein systematisches Bewußtmachen des in seiner Schnelligkeit unbewußten Lesevorgangs. Überspitzt könnte man sagen: übersetzen ist eine Art Komparativ des Verbs „lesen“…

In meinen Augen gibt es keinen großen Unterschied zwischen „Dichten“ und „Übersetzen“. Sowohl als Dichter wie als Übersetzer bereite ich ein schon vorhandenes Material – Wirklichkeit, Gedanken, Sprache, Formen etc. – auf möglichst einfallsreiche Weise zu. Sowohl als Dichter wie als Übersetzer bin ich nicht mehr als ein Interpret, der, gemäß Strawinsky, der ist, der am Glockenstrang zieht: was klingt, das bin nicht ich, was klingt, das ist die Glocke, das ist der Text, sei es der eigene, sei es der übersetzte, wie er, abgelöst von mir, auf dem Papier steht – und, unabhängig von mir, bestehen muß.

Es gibt zahlreiche Beispiele bekannter Dichter und Schriftsteller in der europäischen Literaturgeschichte, die übersetzten: im Deutschen von Tieck&Schlegel über George, Rilke, bis zu Celan, Ingeborg Bachmann, Elfriede Jelinek und Raoul Schrott; im Italienischen von Pavese, Vittorini, Natalia Ginzburg, Primo Levi über Pratolini und Sanguineti bis zu Lalla Romano, Manganelli und Paola Capriolo….. Auch wenn die Übersetzungen von Autoren zumeist als hervorragend oder zumindest anregend betrachtet werden, so gilt, glaube ich, doch im allgemeinen das Urteil des italienischen Literaturkritikers Giorgio Baroni über die Übersetzungen des Dichters Ungaretti: Nonostante l’estrema abilità tecnica e interpretativa di Ungaretti in tali lavori, non si può tacere che si tratta di produzione minore, interessante esercizio di affinamento tecnico, fonte di ispirazione, ma opera non paragonabile a quella interamente creativa.

Je größer der Dichter sein will, desto ich-bezogener, scheint es, muß er sein. Und groß wollen die meisten sein! „I should like“, schrieb der große englische Dichter und Übersetzer W.H. Auden, „to become, if possible, /a minor Atlantic Goethe“. Der natürliche Egoismus des Dichters steht in deutlichem Gegensatz zu den Eigenschaften, die ein Übersetzer haben muß, die Heine z.B. in A.W. Schlegel festgestellt hat, dem Übersetzer Shakespeares ins Deutsche, als er von „der weiblichen Natur von Schlegels Talent“ sprach und seiner „charakterlosen Geschicklichkeit, die sich liebevoll und getreu dem anderen Geist anpaßt“.

Der natürliche Mangel an weiblicher Anpassung und die eigensinnige männliche Behauptung der Selbständigkeit der eigenen schöpferischen Persönlichkeit machen den Dichter im Grunde ziemlich ungeeignet für die Tätigkeit des Übersetzers. Als Übersetzer ist er zumeist unfähig, sich mit der Position eines Co-Autors abzufinden – eine Rolle. die jeder gute literarische Übersetzer spielt – und schafft so ein neues Original in seiner Sprache, das auf dem Text von jemand anderem in einer anderen Sprache basiert. Das trifft auf Stefan Georges Übersetzungen französischer Lyrik des 19. Jahrhunderts zu, die sich wie Gedichte von George selbst lesen, oder auf Rilkes Übertragungen der großen Gedichte Valérys, die den penetranten Rilkeschen Ton haben, auch auf Ingeborg Bachmanns Ungaretti-Übersetzungen… Und das steht in deutlichem Gegensatz zu dem Ideal der Übersetzung, wie es der berühmte Übersetzer der Bibel ins Deutsche, Franz Rosenzweig formuliert hat und das Auden zur Maxime seiner Arbeit als Übersetzer erklärt: What is needed is neither a translation that is so far from being a translation as to be the original (…), nor one that is in effect a new original.

Auden, der Dichter als Übersetzer, übersetzte aus vielen Sprachen – aus dem Deutschen, Italienischen, Schwedischen, Isländischen, Russischen, Polnischen, Kroatischen… Wie schaffte er es, der Brite, der außer seiner Muttersprache, nur noch Deutsch beherrschte, Texte, noch dazu lyrische Texte, aus derart vielen Sprachen zu übersetzen? Er benötigte dazu eine von einem „native speaker“ oder Experten in der jeweiligen Sprache hergestellte wörtliche Übersetzung, eine sogenannte „Interlinearversion“. Davon stellte er eine „polished version“ her, indem er die Interlinearversion „ausfeilte“, seinen Vorstellungen von der jeweiligen literarischen Gattung und Form gemäß bearbeitete und seinen Namen als Dichter für die Veröffentlichung hergab.

Diese Methode der Übersetzung auf Grundlage einer Interlinearversion ist schon lange Zeit weit verbreitet. Auf diese Art entstanden auf den ersten Blick faszinierende Veröffentlichungen von Autoren, vor allem auch Lyrikern, aus aller Welt – im deutschsprachigen Raum waren es für meine Generation z. B. die in der damaligen Deutschen Demokratischen Republik herausgegebenen Gedichtbände des Verlags Volk und Welt -, denen ein wichtiger vermittelnder und dokumentarischer Wert zukam, die aber die Qualität des Kunstwerks – auch die des Kunstwerks in Übersetzung – vermissen ließen: diese aus Interlinearversionen oft von Dichtern wie Günter Kunert, Elke Erb, Sarah Kirsch und anderen namhaften Dichtern der DDR fabrizierten Übersetzungen sind heute, vor allem wegen ihrer unnatürlichen Sprache, für mich fast unlesbar… Die Ursache dafür sehe ich darin, daß der (Nach)Dichter als Übersetzer zwar ein korrektes Wort-Material zur professionellen Bearbeitung zur Verfügung hatte, daß er aber zumeist alles das, was, abgesehen von den Wörtern, den Text zum unverwechselbaren, eigenartigen Kunstwerk macht, nennen wir es das „Metasprachliche“, entweder gar nicht oder nicht aus eigener Anschauung, aus eigenem Erleben kannte und es daher in die Übersetzung nicht einfließen lassen konnte.

Eines meiner ersten größeren Übersetzungsprojekte war die Übersetzung des Essays „Meditazioni sullo scorpione“ von Sergio Solmi aus dem Italienischen ins Deutsche. Ich reichte die Übersetzung, ohne große Hoffnungen, im Jahr 1990 für den damals noch existierenden Wystan Hugh Auden Übersetzer-Preis ein. Nach monatelangen Vorarbeiten, die vor allem in wiederholtem Lesen und unermüdlichem Nachschlagen der mir unbekannten Wörter in Wörterbüchern bestanden, hatte ich, den Akt des tatsächlichen Übersetzens wollüstig hinauszögernd, einige Wochen an der Übersetzung gearbeitet, mit nichts anderem ausgerüstet als mit Langenscheidts Großwörterbuch Italienisch/Deutsch, einigen biologischen und astrologischen Fachbüchern – und meinen Sprachkenntnissen, vor allem denen im Deutschen, denn nichts ist, glaube ich, wichtiger beim literarischen Übersetzen – die Profis mögen dem Dilettanten diesen Gemeinplatz verzeihen – als die Beherrschung der eigenen Sprache. Notorische Selbstzweifel hatten mich, wie so oft, geplagt – typisch österreichische und solche, wie sie alle, die übersetzen, allzu gut kennen -: denn jede der vielen deutschen Versionen des italienischen „bella prosa“-Textes von Solmi erschien mir immer wieder als nur e i n e von zahllosen möglichen Lesarten.

Italienisch ist die Sprache, die ich als letzte lernte, als beinah Vierzigjähriger. In der Schulzeit hatte ich Latein gelernt, Englisch war die erste Fremdsprache gewesen, Französisch die zweite; als dritte war dann später noch Russisch dazugekommen. Englisch beherrsche ich heute in Rede und Schrift am besten. Französisch ist für mich die bei weitem anregendste Literatur- und Lesesprache… Allerdings: französisch reden zu müssen, heute, da ich so lange in Italien gelebt und das Italienische einigermaßen erlernt habe, stellt mich vor fast unüberwindliche Probleme…

Meine Annäherung an das Italienische erfolgte zuerst einmal nur über das stille Lesen. Viele Wörter konnte ich mir aus dem Lateinischen und Französischen erklären – in wie viele Fallen man durch ein derart auf Scheinanalogien beruhendes Ethymologisieren tappt, wurde mir erst viel später klar, als ich schon einige Jahre in Italien gelebt hatte und die Sprache einigermaßen beherrschte. Auch die Grammatik machte mir – zumindest anfangs bei der Lektüre der scheinbar einfachen Texte Pennas – keine größeren Probleme. Allerdings las ich Pennas Texte in einer zweisprachigen – italienisch/englischen – Ausgabe, die mir ein Freund aus Italien mitgebracht hatte. So gelangte ich, selbstverständlich auf einem rezeptorisch niedrigem Niveau, zu einem mich zufriedenstellenden Verständnis des Textes. Und dieses bildete – ein Zeitlang wenigstens – die Grundlage des optimistischen Glaubens an die Machbarkeit einer Übersetzung und an die mögliche Transponierung eines Textes aus einer Sprache in eine andere. Inzwischen weiß ich, daß dieser Glaube um so schwächer wurde, je besser mein „knowing“ und „feeling“ in einer Sprache war.

Das Übersetzen von literarischen Texten, auch von Gedichten, ist in meinen Augen zweifellos eine wichtige, zwischen den Sprachen und Kulturen vermittelnde Tätigkeit, auf die zu verzichten, eine Verarmung unserer literarischen Kultur wäre.

W.H. Auden wies sogar auf die Nützlichkeit der Tätigkeit des Übersetzens als solche hin. Er betrachtete das Übersetzen als eine Pflicht für jeden Schriftsteller, als eine politische Pflicht: Schriftsteller sollten Prosa und Lyrik anderer Länder übersetzen, um sie Lesern in ihrem eigenen Land zugänglich zu machen. Er glaubte auch, daß das Übersetzen anderer Autoren einen fruchtbaren Einfluß auf das eigene Schreiben habe, denn: … erstens stellt es neue Arten von Sensibilität und Stil vor… und unverbrauchte literarische Formen…. Zweitens, und vielleicht wichtiger, fördert das Problem, equivalente Bedeutungen in einer anders als die Originalsprache strukturierten Sprache zu finden, die Entwicklung der Syntax und des Wortschatzes der Sprache des Übersetzers.

Man sollte sich aber auch vom Beispiel einer angeblich „gelungenen“ Übersetzung nicht dazu verleiten lassen, zu ignorieren, wie sich durch die Übertragung aus einer Sprache in eine andere – und das heißt eben immer auch: aus einer Kultur in eine andere – der Inhalt, die Form, also die Gestalt des ursprünglichen Textes hin bis zur Unkenntlichkeit verändert. Ein Beispiel für diese Behauptung ist für mich das Werk des Griechen Konstantin Kavafis. Es liegt zwar in mehreren deutschen Versionen vor, die jede korrekt und getreulich den Inhalt wiederzugeben versuchen, die aber, in meinen Augen, allesamt an dem Vorhaben, die Form oder den spezifischen Ton der Texte wiederzugeben, offensichtlich gescheitert sind – scheitern mußten, denn es ist anscheinend unmöglich, den „Ton“ eines Gedichts – in der Lyrik ja d i e Komponente, die den „Zauber“, das „Geheimnis“ des Textes ausmacht – aus einer Sprache in die andere zu transportieren: bestenfalls entsteht „auf dem Transport“ ein anderer, fremder „Ton“ in der neuen Sprache, zumeist aber geht – wie im Falle der deutschen Übersetzungen der Gedichte von Kavafis – jeglicher erkenn- und erinnerbare charakteristische Ton verloren.

W.H. Auden sieht die schwierigste Aufgabe des Übersetzers nicht darin, wiederzugeben, was der Autor sagt, sondern w i e er es sagt, also darin, den spezifischen Tonfall zu treffen. In der Einleitung zu seiner Übersetzung von Goethes „Italienische Reise“ stellt er sich daher die grundsätzliche Frage : Wie soll ein Mensch, der deutsch dachte und schrieb, englisch denken und schreiben und trotzdem eine einmalige Person mit dem Namen Goethe bleiben?

Den angeblich unverwechselbaren Ton der Lyrik von Kavafis – und es besteht kein Grund, den griechischen „native speakers“, die ihr diesen Ton zuschreiben, nicht zu glauben – können eben nur die vernehmen, deren Muttersprache Griechisch ist…

Der Gedanke ist tröstlich: das Gedicht – eine der letzten Bastionen geistigen und kulturellen Lebens, die sich der Vereinnahmung durch die militanten Moden der Internationalisierung, Globalisierung des Kapitalismus eigensinnig widersetzt…

Aus ähnlichen Gründen unübersetzbar wie die Lyrik des Griechen aus Alexandria – zumindest was die Übersetzung ins Deutsche betrifft – erscheint mir, der ich immer ein eifriger Leser von Lyrik aller Länder und Sprachen gewesen bin, die italienische Lyrik, und zwar die aus allen Epochen. Ich habe weniger Probleme mit einem englischen Gedicht, das ins Deutsche übersetzt ist. Das mag damit zu tun haben, daß durch den Anteil der alten germanischen Sprachen am modernen Englisch eine Verwandschaft zwischen dem Englischen und dem Deutschen gegeben ist, die sich nicht nur im rein Sprachlichen, also im Lexikalischen, in der Grammatik und Idiomatik äußert, sondern auch in der Mentalität der Menschen, die diese Sprache verwenden. Eine derartige Verwandtschaft gibt es – der geografischen Nachbarschaft zum Trotz – zwischen dem Deutschen und dem Italienischen nicht. So sind nicht nur die Sprachen strukturell verschieden, sondern auch die Mentalität der die jeweiligen Sprachen Sprechenden ist anders.

Was mich persönlich angeht, kommt noch dazu, daß ich zwar Englisch an der Universität studiert habe, daher über ein gewisses Wissen im Hinblick auf Sprache und Kultur und Literatur verfüge, daß ich aber nie längere Zeit in einem angelsächsischen Land gelebt habe. Die Mentalität der Angelsachsen ist mir bekannt, auch vertraut, aus der Literatur, aus Filmen, aus längeren Begegnungen mit Menschen, aus Freundschaften… Aber ich bin dieser Mentalität, denkend und fühlend, nie nahe, bis zur Identifikation nahe gekommen – wollte es auch gar nicht -; ich habe z.B. nie Träume gehabt, in denen Englisch geredet wird… Sehr wohl identifizierte ich mich aber mit der Mentalität, mit der ich 13 Jahre lang in einer abgelegenen Ecke Italiens, in Duino, nahe Triest, tagtäglich konfrontiert war, also mit der – vereinfacht gesagt – italienischen. Auch heute noch, Jahre nach meiner widerwilligen Rückkehr aus Italien nach Österreich, träume ich ab und zu „italienisch“. (Mein Traum-Italienisch ist wunderbar!….)

Derart war es mir möglich, über längere Zeit hin ein gewisses „Gefühl“ für d a s „Italienische“ zu entwickeln. Wahrscheinlich erscheint mir deswegen jeder Versuch der Transponierung eines italienischen Gedichts ins Deutsche unbefriedigend, müßig, unmöglich… Da ich mir einbilde, ein Ohr für den „Ton“ eines italienischen Textes zu haben, frustriert mich jeder in der Übersetzung ins Deutsche zwangsläufig entstehende andere, unpassende, fremde, neue Ton oder – und das ist in den meisten Übersetzungen der Fall – die Abwesenheit eines Tons überhaupt. Und die bloße Wiedergabe des inhaltlich Faktischen eines lyrischen Textes in einer möglichst wortgetreuen Übersetzung kann den Dimensionen eines sprachlichen Kunstwerks – — und das ist jedes gute Gedicht – unter keinen Umständen gerecht werden.

Für den Normalfall des Übersetzers – es sei denn, er gehört zu den raren echten Zweisprachigen, deren Echtheit allerdings auch fragwürdig ist – ist die Sprache, aus der er übersetzt, eine „Zweit“-Sprache, eine Fremdsprache. Er kann diese Fremdsprache – Vokabular, Grammatik, Idiomatik etc.- noch so gut und lang und gründlich erlernt haben, er wird sie niemals so beherrschen, wie jemand, der in der Welt dieser Sprache aufgewachsen ist, der sich von Geburt an mit allen Sinnen dieses Werkzeugs der Kommunikation, Sozialisation, der Kunst, des Spiels, der verbalen als auch der non-verbalen Ausdrucks-Möglichkeiten etc. lernend bemächtigt hat.

Auch innerhalb der Gemeinschaft von „native speakers“ sind je nach Herkunft, Alter, regionaler oder sozialer Zugehörigkeit die unterschiedlichsten Möglichkeiten des Verständnisses eines Textes, d.h. Lesarten feststellbar. Jedes Wort birgt für jeden einzelnen andere Konnotationen, weckt andere Assoziationen, hat einen anderen Klang… Die Qualität ein und desselben Begriffes kann innerhalb derselben Sprachgemeinschaft von Region zu Region, von Generation zu Generation deutlich differieren – ganz zu schweigen von den generellen Differenzen zwischen den großen europäischen Sprachen und Kulturen….

Hans Raimund

Fotograf: Erich Malter

II

Ein Beispiel für die von mir empfundene Unübersetzbarkeit des italienischen Gedichts stellt – für mich – das lyrische Werk Sandro Pennas dar. Ich erinnere mich, wie ein mit mir befreundeter italienischer Lyriker, Sprachwissenschaftler und Übersetzer, auf meine voreilig herablassenden, pejorativen Bemerkungen zu Pennas Gedichten gelassen erwiderte: „Das versteht ein Nicht-Italiener eben nicht!“

Für den Nicht-Italiener – ist er noch dazu ein Heterosexueller – können Pennas minimalistische, zumeist titellose Gedichte häufig und in mehrfacher Hinsicht „Kitsch“ sein: zum einen pädophiler Schwulen-Kitsch durch Pennas poetische Versessenheit darauf, immer wieder Knaben und die Liebe zu Knaben im Text zu feiern, zum anderen Poesie-Kitsch durch die für die romanische Kultur typische Formelhaftigkeit der Sprache, z.B.; die manische Verwendung von Substantiven wie „amore“, „cuore“, „dolore“…, von Verben wie „sognare“, „sentire“, „volere“, „nascere“, „sapere“ … und Adjektiven wie „lieto“, „lieve“, „dolce“, „bello“…, weiters auch durch das herangezogene Wirklichkeitsmaterial, das in seiner Banalität für nicht-italienische Ohren irritierend klischeehaft wirkt: die Sonne, Flüsse, Bäume, Wind, Regen, erleuchtete Fenster, verlassene Straßen, überfüllte Züge…

Die scheinbare Unbedarftheit und Kunstlosigkeit der Gedichte Pennas kann aber für den geduldig, immer wieder von neuem lesenden, „offenen“ deutschsprachigen Leser, der durch die auf Kunst und Künstlichkeit mehr Wert legende deutsche Lyrik geschult ist, nach und nach und immer mehr an Faszination gewinnen. Auch der Homosexuellen-Kitsch wird in Kauf genommen, vor allem wenn man sich die durch die Jahrhunderte aufgehäuften poetischen Klischees des abendländischen heterosexuellen Liebesgedichts vor Augen führt.

Ich möchte anhand der deutschen Versionen eines Textes Sandro Pennas das Dilemma des Übersetzers von Lyrik im Detail aufzuzeigen:

>> Sempre fanciulli nelle mie poesie!
Ma io no so parlare d’altre cose.
Le altre cose son tutte noiose.
Io non posso cantarvi Opere Pie. <<

Vier Zeilen: vier Sätze; rhythmisiert, gereimt; lexikalisch, grammatikalisch ohne größere Schwierigkeiten verständlich.

Der Übersetzer von Lyrik muß bereit sein, Kompromisse einzugehen: entweder er wird durch eine wortwörtliche Übersetzung der Forderung nach einer präzisen Wiedergabe des Inhalts gerecht unter Hintansetzung der formalen Aspekte des Textes, oder er versucht durch parallelle rhythmische Muster und ein Reimschema der Forderung gerecht zu werden, eine dem Original entsprechende oder auch neue Form zu finden, auch auf die Gefahr hin, die Wörter durch ähnliche oder andere ersetzen und so den Inhalt modifizieren zu müssen. Beiden, Inhalt und Form, gleicherweise gerecht zu werden, das wird ihm nicht gelingen. Der charakteristische Tonfall des Originals geht in jeder Übersetzung ohnehin verloren. Wenn es dem Übersetzer gelingt, einen hörbaren, einprägsamen neuen Tonfall in der neuen Sprache zu finden – und sei er auch konträr zu dem des Originals – kommt dieser der übersetzten Version eher zugute als der gänzliche Mangel an „Ton“…

Das von mir gewählte Beispiel stellt den Übersetzer allerdings nicht vor ganz unüberwindliche Probleme. Im November 1982 erschien in der Zeitschrift „Lynkeus“ die erste von mir hergestellte Version dieses für die Dichtung Pennas programmatischen Gedichts:

>> Immer Knaben in meinen Gedichten!
Aber ich kann von nichts sonst reden.
Alles andere langweilt mich zutiefst.
Ich kann nicht Heilsarmeehymnen singen. <<

Die Version verzichtet auf den Reim, der, meines Wissens, keine integrale Rolle in der Poetik des Dichters Penna spielt; sie folgt im großen und ganzen dem rhythmischen Grundmuster; als Fehler des Anfängers anzustreichen ist die Nichtbeachtung der Anrede der fiktiven Adressaten des Textes in dem Wort „cantarvi“ in der letzten Zeile; unschön ist die Wiedergabe des Begriffs „Opere Pie“ durch das wenig poetische Wortungetüm „Heilsarmeehymnen“, das aber als Versuch den für den Nicht-Italiener vagen Begriff „Opere Pie“ im Deutschen zu konkretisieren gesehen werden kann. Der Tonfall des verbindlichen Trotzes, eines etwas divahaften „Je suis comme je suis…“ ist auch in der Übersetzung annähernd zu treffen.

In der 1985 im Verlag Beck & Glöckler erschienenen Auswahl von Gedichten Pennas lautet das Gedicht in der Übersetzung von Reinhard von der Marwitz so:

>> Lauter Knaben in meinen Gedichten!
Aber von anderem kann ich nicht reden.
Die anderen Dinge sind alle langweilig
Ich kann euch keine Frommen Werke singen. <<

Von der Marwitz verzichtet ebenfalls auf den Reim. Er übersetzt, fast originalgetreu rhythmisiert, wortwörtlich, mit der kleinen Freiheit des Wortes „lauter“ anstelle des originalen „immer“ (sempre); die Wiedergabe des Begriffs „Opere Pie“ durch „Fromme Werke“ hat, in meinen Augen, für den deutschsprachigen Leser geringe assoziative Aussagekraft. Ich verbinde jedenfalls mit diesem Begriff wenig.

Beide Versionen nehmen jedoch dem Text die ohnehin fragile künstlerische Dimension auch dadurch, daß sie sich auf die mehr oder weniger korrekte Wiedergabe des Inhalts konzentrieren, auf Kosten der formalen Gestalt, die durch die Knappheit, den Reim und den Rhythmus den Reiz eines Sinnspruches hat.

In einem Aufsatz über Penna in meinem Band „Das Raue in mir“ steht eine andere Version:

>> Knaben in meinen Gedichten, immer wieder!
Aber ich kann von nichts anderem reden, nicht ich.
Alles andere langweilt mich.
Für euch werd ich nicht Fromme Lieder singen. <<

Ich gebe hier den originalen Text wesentlich freier im Deutschen wieder, mit dem Ziel, die durch den Reim bedingte zwingende Lakonik des Sinnspruchs zu erreichen. Allerdings kann ich mich dann doch nicht zu der für das Reimen nötigen Inversion in der letzten Zeile entschließen: Für euch werd ich nicht singen Fromme Lieder. Auffallend ist auch die Änderung des Tonfalls, die sich zum einen aus dem betonenden Nachstellen von Satzteilen ergibt (immer wieder!, nicht ich), zum andern auch aus dem idiomatisch verwendeten Futur werde der letzten Zeile, das an die Stelle des verbindlicheren kann tritt: der Ton ist dadurch ein aggressiv trotzigerer, gleichsam „eingedeutscht“.

>> Immer Knaben in meinen Gedichten!
Aber ich weiß nichts zu sagen von anderen Dingen.
Die anderen Dinge sind alle langweilig
Ich kann für euch nicht Fromme Werke besingen. <<

Auch diese Version nur eine von vielen möglichen, von denen eben jede einen Kompromiss darstellt und als solche unbefriedigend bleiben muß.

Seit vielen Jahren beschäftige ich mich immer wieder mit der Übersetzung von Gedichten im Triestiner Dialekt von Virgilio Giotti.

INVERNO

Dei purziteri,
ne le vitrine,
xe verduline
le ulive za;

ghe xe le renghe
bele de arzento;
e sùfia un vento
indiavolà;

cativo inverno
ècote qua!

WINTER

In den Auslagen
der Greissler
gibts die hellgrünen
Oliven schon;

gibts die Heringe,
die schön silbrigen;
und ein Höllenwind
weht einen fast davon;

böser Winter, ja,
jetzt bist du da!

Giotti, dessen dichterisches Werk in Italien ein positives Echo gefunden hat, ist außerhalb Italiens völlig unbekannt geblieben. Das hat seine Ursache darin, daß Giotti den Großteil seines Werks im Dialekt geschrieben hat. Vom psychosozialen Gesichtspunkt her ist Dialekt seit jeher eine Sprache der Identität und des Widerstands gewesen, des Protests gegen eine abgenützte, erstarrte Hoch- und Literatursprache, gegen politische Unterdrückung… Wie Biagio Marin, der den Gradeser Dialekt verwendet, brach Giotti mit seinen in „triestino“ geschriebenen Texten mit der Tradition der damaligen Dialektdichtung. Er wagte den Schritt vom Komischen der herkömmlichen Dialektdichtung zum Sublimen, das sonst der hochsprachlichen Literatur vorbehalten ist. Auf Grundlage des Triestiners Dialekts erarbeitete sich Giotti eine höchst persönliche, raffinierte Sprache, der nichts mehr volkstümlich Mundartliches anhaftet. Wie Marin, für dessen Werk Goethe, Heine, Rilke Vorbilder waren, orientierte sich Giotti an der hochsprachlichen Literatur, an Pascoli, an den „vociani“, am „crepuscolarismo“. Der genial nachempfundene Triester Dialekt wird für ihn zu „uno straordinario linguaggio della poesia, arcaico es insieme modernissimo, un purissimo veicolo espressivo, medello esemplare di una resistenza dell’ esperienza individuale – e della sua universilazzione lirica – all’ atrofia dell’ alienazione sociale e del suo falso universale.“ (Ara/Magris)

Ist die Übersetzung aus einer (Hoch-) Sprache in eine andere schon ein Abenteuer, so ist der Versuch, Dialekt zu übersetzen, hat man ihn überhaupt erst einmal verstanden, ein doppeltes Abenteuer – und mit zwangsläufig desaströsem Ausgang. Denn für den Dialekt des Originals ein Äquivalent in einem Dialekt der Sprache der Übersetzung zu finden – etwa „triestino“ durch den Wiener Dialekt wiederzugeben – das ist unmöglich : viel zu deutlich, ja fast aufdringlich steht hinter jedem Dialekt eine durch Landschaft, Geschichte, Klima etc. geprägte, unverwechselbare, unersetzbare Individualität, die sich jeder Transponierung verweigert, da sie an jeder „Transplantierung“ zugrunde geht… Texte im Dialekt sind doppelt „unübersetzbar“. Ein schlagendes Beispiel ist die deutsche Übersetzung von Umberto Sabas Roman „Ernesto“, in dem die dialektalen Dialoge der Arbeiter in Triest in fränkischen Dialekt wiedergegegen werden…

Abschließend noch eine Gegenüberstellung von Übersetzungen eines Gedichts des sizilianischen Dichters Lucio Piccolo. Ich stieß auf Piccolo Ende der 80er-Jahre, anläßlich eines Artikels zu einem Jahrestag des Dichters in der Zeitschrift „Poesia“ – übrigens ein einmaliges Phänomen : es gibt nichts mit dieser Zeitschrift Vergleichbares im deutschen Sprachraum. Seitdem beschäftige ich mich unermüdlich mit der Person und dem dichterischen Werk dieses Autors. Meine ersten Übersetzungen von Gedichten Piccolos wurden, zusammen mit einem Aufsatz, 1990 in die „Neue Zürcher Zeitung“ abgedruckt. 1998 erschienen dieselben Gedichte in der Übersetzung von Franziska Meier in der Zeitschrift „Akzente“ des Hanser-Verlags. Keine der beiden Übersetzungen wird – auch nur annähernd – dem Ton, der Musikalität, dem „Aroma“ des Texts Piccolos gerecht:

DI SOSTE VIAVIAMO

Di soste viviamo; non turbi profondo
cercare, ma scorran le vene,
da quattro punti di mondo
la vita in figure mi viene.

Non fare che ancora mi colga
l’ebbrezza, ma lascia che l’ora si sciolga
in gocce di calma dolcezza;
e dove era il raggio feroce, ai muri vicini
che celano i passi ed i visi,
solleva una voce improvvisi giardini.

E il soffio è sereno che muove al traforo
dei rami i paessagi interotti
e segna a garofani d’oro
la trama delle mie notti.

VON RASTEN LEBEN WIR

Von Rasten leben wir; laß tiefes Sinnen
dich nicht stören, laß nur das Blut durch Adern streben;
aus den vier Himmelsrichtungen
erreicht in Bildern mich das Leben.

Mach nicht, daß Trunkenheit mich wieder
packt, laß nur die Zeit zergehen
in Tropfen stiller Süße,
wo scharf der Strahl war, auf den nahen Mauern,
die das Gesicht, den Schritt verhehlen.
läßt eine Stimme Gärten jäh erstehen.

Und heiter ist der Hauch, der in dem Gitterwerk
der Äste zerfallene Landschaften bewegt
und, mit goldnen Nelken merkend,
meine Nächte Stoff durchwebt.

(H. Raimund)

INNEHALTEND LEBEN WIR

Innehaltend leben wir, oh, störe nicht tiefversunkenes
Suchen, sondern laß das Blut in den Adern fließen,
aus allen vier Himmelsrichtungen
strömt dann mir das Leben in Bildern zu.
Füge es nicht, daß mich zuletzt noch der Rausch
übermannt; laß geschehen, daß sich die Stunde
in Tropfen ruhiger Süße auflöst;
wo der grausame Strahl hinkam, bei den nachbarlichen Mauern,
die Schritte und Gesichter verbergen,
hebt nun eine Stimme ungekannte Gärten empor.

Und ein heiterer Windhauch bewegt an den Lichttunneln
des Geästs die gebrochenen Landschaften
und durchwirkt mit Goldnelken
das Geflecht meiner Nächte.

(F. Meier)

Lucio Piccolo und Giuseppe Tomasi di Lampedusa (1930)

III

Die Tätigkeit des „traduttore poetico“, des Übersetzers von Lyrik ist umso frustrierender, je kritischer die Einstellung des Übersetzenden zu seiner Arbeit ist.
Irgendwann- und das kann manchmal nach Jahren sein – gibt er nach einem langwierigen Prozeß des immer wieder von neuem Übersetzens, des „Feilens“, des geduldigen Suchens nach einem Wort, des hoffenden Wartens auf das passende, dieses aberwitzige Streben nach einer fiktiven Perfektion auf und bescheidet sich schließlich, irgendwann plötzlich resiginierend, mit einer oft auf wirren Umwegen erreichten endgültigen Unvollkommenheit…, weil er durch einen an einen Termin gebundenen Auftrag einfach muß oder weil er Geld braucht, weil er einfach genug hat, weil einmal Schluß sein m u ß! …

À propos Geld: das literarische Übersetzen, vor allem das von Lyrik, wird in Österreich und in Deutschland auch heute noch entweder gar nicht – z.B. wenn der Auftraggeber eine kleine Literaturzeitschrift ist – oder schlecht bezahlt – wenn der Auftraggeber ein Verlag ist -. Die meisten meiner Übersetzungen von Gedichten europäischer Lyriker stellte ich österreichischen Literaturzeitschriften, Zeitungen und Anthologien gratis zum Abdruck zur Verfügung. Für die Übersetzung eines Romans von Gesualdo Bufalino, die in einem renommierten deutsche Großverlag herauskam, erhielt ich im Jahr 1994 eine einmalige Pauschale. Ich hatte ein ganzes Jahr an der Übersetzung des Romans gearbeitet und fünf Versionen des Texts hergestellt…

Wieso gibt es aber noch immer Leute, die trotz der dürftigen, unverhältnismäßig niedrigen Honorierung der Arbeit des literarischen Übersetzens, ja auch trotz der Einsicht in die Unmöglichkeit einer „gelungenen Transplantierung“ eines Gedichts aus einer Sprache in eine andere weiterhin Lyrik übersetzen? Warum gibt es noch immer Menschen – und ich gehöre dazu -, die gar nicht anders können, wenn sie einen poetischen Text in einer anderen Sprache lesen, der sie fasziniert, sich gleich zu fragen: wie würde dieses Bild, dieser Begriff, diese Zeile, diese Strofe auf Deutsch lauten,… ? Müßige Fragen! Genauso müßig wie z.B. die Frage, weshalb es noch immer Leute gibt, die heute noch Gedichte schreiben.

Ausschlaggebend ist wahrscheinlich die unwiderstehliche Faszination, die alles Sprachliche auf einen gewissen Typus Mensch ausübt: vor allem das Spiel mit der Sprache, mit den Sprachen, bei dem das Rationale, Materielle, Sinn- und Nützlichkeitsträchtige in den Hintergrund, besser: gar nicht in Erscheinung tritt.

Das Übersetzen von Gedichten – eine, so scheint es, echte Gide’sche „action gratuite“… Oder: weniger überspitzt: so wie es als oben schon erwähnte politische Pflicht des Schriftstellers angesehen werden kann, zu übersetzen, so ist es die erste Aufgabe des Übersetzens „Prothesen“ herzustellen: Behelfe, Werkzeuge, Vehikel, die andere mit einer sprachlichen „Defizienz“ – der nämlich, eine andere Sprache nicht zu kennen – in den Stand versetzt, so zu agieren, als hätten sie diese Defizienz nicht.

Und es ist dieser Behelfs-Charakter, der, in meinen Augen, der literarischen Übersetzung ihre Daseinsberechtigung gibt. Nicht ein zweites Kunstwerk soll durch die Übertragung aus einer in die andere Sprache entstehen – es kann ja, wie gezeigt, gar nicht entstehen! -, sondern ein Behelf, mit dem man sich an ein in einer fremden Sprache gestaltetes Kunstwerk durch das Medium einer vertrauten Sprache
verstehend annähern kann.

Meine Tätigkeit als Übersetzer von italienischen Gedichten ins Deutsche erstreckt sich über nunmehr 20 Jahre. Lesend, über den Text meditierend, übersetzend lernte ich Italienisch. Mein erstes Übersetzungs-Vorhaben bald nach meiner Ankunft in Italien im Jahr 1984 war die vollständige Übersetzung von Umberto Sabas „Scorciatoie e raccontini“. Sabas „Abkürzungen“ – kurze Prosastücke, oft betrachtend, nicht selten moralisierend, gelegentlich zur Maxime oder zum Aphorismus zugespitzt, provokatorisch im Ton oder auch lyrisch meditativ, kamen sprachlich und formal meinen Intentionen, durch Übersetzen die Sprache zu lernen, sehr entgegen.

Ich kannte die italienische Literatur fast gar nicht, als ich 1984 nach Italien umsiedelte. Als passionierter Zeitungsleser reagierte ich aber stets prompt auf eine Rezension, einen Nachruf, einen aktuellen Artikel über einen mir unbekannten italienischen Dichter auf der damals in den meisten Tageszeitungen noch vorhandenen „terza pagina“. Ich schlug den Namen des mir unbekannten Autors in einer Literaturgeschichte nach, kaufte bald darauf eines oder mehrere seiner Bücher und unternahm sehr oft gleich den Versuch, daraus zu übersetzen… So „erarbeitete“ ich mir im Laufe von 13 Jahren das lyrische Werk – immer in Auswahl! – von Autoren wie Sandro Penna, Primo Levi, Umberto Saba, Virgilio Giotti, John Rodolfo Wilcock, Franco Fortini, Attilio Bertolucci, Rocco Scotellaro,Giuseppe Conte, Vittorio Sereni, Bartolo Cattafi, Dino Campana, Lucio Piccolo, Sergio Solmi, Vivian Lamarque, Franco Buffoni, Christina Campo… Ich wählte aber immer Autoren aus, die mir interessant erschienen, Außenseiter, Juden, Homosexuelle, Exzentriker, Verweigerer… Was mich interessierte, das waren die Bezugspunkte zwischen ihrem realen Leben und meinem, was mich kaum interessierte, waren stilistische oder thematische Ähnlichkeiten zwischen ihrem und meinem Schreiben…, ganz im Gegenteil: je verschiedener ihre Schreibweise von meiner war, desto mehr reizte es mich, irgendwann einen Übersetzungsversuch zu wagen….

1990 erhielt ich den Wystan Hugh Auden Preis für meine Übersetzung des Titel-Essays des Buches „Meditazioni sullo scorpione“ von Sergio Solmi. Die Lektüre von Solmis Werken im Verlag „Adelphi“, vor allem die seiner „Versioni poetiche. Primo Quaderno /Secondo Quaderno“ bedeutete für mich eine Einführung in eine Welt der Übertragung von Gedichten, die mehr von „Liebhaberei“, Zufallslieben – und Vorlieben bestimmt ist als von Aufträgen und Projekten. Später begegnete ich dem gleichen begeisterten und anregenden „Dilettantismus“ im übersetzerischen Werk von Guido Ceronetti.

Durch Solmi wurde ich auch mit dem Werk des französischen Dichters Jude Stéfan bekannt: seit über 10 Jahren lese ich und übersetze ich, ohne Hoffnung auf ein tatsächliches Verständnis, aber mit ungemildeter Verbissenheit die Gedichte dieses faszinierenden französischen Zeitgenossen.

Der einzige offizielle Auftrag, den ich in der Folge des Auden Preises erhielt und den ich, nach langem Zaudern, übernahm, war die Übersetzung des Romans „Qui pro quo“ von Gesualdo Bufalino für den Suhrkamp Verlag. Dieser Roman ist ein vertrackter und versnobbter Literatur-Krimi, gegen den ich, im langen Verlauf des Übersetzens einen immer größeren Grimm hegte – schlecht geschrieben, unsympathische Protagonisten, überfrachtet mit literarischer Bildung und Literaturbetriebs-Insider-Anspielungen etc… Ich machte zum ersten Mal die Erfahrung, wie während der mühsamen Arbeit an der Übersetzung eines Buches der Haß des Übersetzers auf den Autor nach und nach hochkommt und schließlich unaufhaltsam wächst. Schon lange vorher hatte ich einmal zufällig eine Bemerkung in Bufalinos Buch „Il Malpensante. Lunario dell’ anno che fu“ dick an- und unterstrichen:

Il traduttore è con evidenza l’unico autentico lettore di un testo. Certo più di ogni critico, forse più dello stesso autore. Poiché d’ un testo il critico è solamente il corteggiatore volante, l’autore il padre e marito, mentre il traduttore è l’amante.

So wie jeder Liebhaber, der das Objekt seiner Liebe durch und durch kennt (zu kennen glaubt?), der es liebt und gleichzeitig haßt, ebenso haßt und liebt der Übersetzer, aufgrund allzugroßer Vertrautheit, den Text, den er übersetzt, und den hinter diesem Text geahnten Autor… Nach einjähriger Arbeit machte ich meinem von Groll erfüllten Herzen Luft: ich teilte Bufalino meine aus dem intimen Umgang mit seinem Roman erwachsenen literarischen Bedenken in einem Brief mit. Er schrieb prompt zurück, keineswegs beleidigt, sondern voll Verständnis und Solidarität: (…) sono doppiamente lieto di conoscerla; sia (…), sia per il legame traduttore-autore che apprendo essersi stabilito fra noi – mi sarebbe piaciuto, a questo proposito, rispondere a qualunque dubbio potesse averlo tormentato. So, per esperienza, io stesso quale ambiguo sentimento di delizia e rabbia accompagni le fatiche del traduttore e mi sento quasi in colpa – Ragione di più per ringraziarLa (…). Die Übersetzung erschien 1994. Ich erhielt ein einmaliges Honorar, eine Pauschale, als Abgeltung, ohne jede weiteren Rechte. Der Kriminalroman kam seither in 3 verschiedenen Ausgaben auf den Markt: gebunden, in einer renommierten Sonderreihe des Verlags, als Taschenbuch. Alle Ausgaben sind bis heute lieferbar.